Europa im Angesicht des Krieges: Die Dringlichkeit eines deutsch-französischen Wandels

Bruno Vever

Europa

8. Juli 2022


Rede von Bruno Véver

Am 8. Juli 2022 im Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg

Innerhalb weniger Monate wurden alle europäischen Karten auf den Kopf gestellt:

  • in Europa durch den russischen Angriff auf die Ukraine am 23. Februar, diesen Krieg, der zum ersten Mal seit 80 Jahren auf den Kontinent zurückkehrt, bosnisches Intermezzo einmal ausgenommen,
  • in Frankreich durch das Fehlen einer neuen parlamentarischen Mehrheit außer gelegentlich für Emmanuel Macron, obwohl er gerade als Präsident der Republik wiedergewählt wurde,
  • in Deutschland durch die Verpflichtung der Koalition von Olaf Scholz, mit dem Krieg ihre Agenda sowohl im Verteidigungs- als auch im Energiebereich radikal in Frage zu stellen.

Die kommenden Jahre werden somit völlig anders verlaufen als die bisher bekannten:

  • sprach der NATO-Generalsekretär von der Aussicht, dass der Krieg in der Ukraine noch jahrelang weitergehen könnte,
  • die politische Stabilität Frankreichs wird durch seine neue parlamentarische Situation dauerhaft in Frage gestellt werden,
  • werden sich die Veränderungen in Deutschland als besonders problematisch erweisen.

Angesichts dieser neuartigen Situation sind alle Herausforderungen neuartig.

 

Neuartige Herausforderungen für die Europäische Union

Bisher hatte sich das europäische Aufbauwerk hauptsächlich darauf konzentriert, einen Wirtschaftsmarkt zu errichten, ihn mit einer einheitlichen Währung auszustatten und ihn sowohl intern als auch extern bestmöglich zu verwalten. All dies geschah in enger Verzahnung mit einer Globalisierung, die uns als glücklich, zumindest aber als vielversprechend versprochen wurde. Die letzten bisherigen Krisen, insbesondere der Austritt des Vereinigten Königreichs und die Covid-Pandemie, konnten so gut wie möglich bewältigt werden. Sie hatten die Fokussierung Europas auf sein wirtschaftliches und soziales Funktionieren nicht in Frage gestellt.

Nunmehr sieht sich die Europäische Union mit einem Krieg vor ihrer Haustür konfrontiert, der alles auf den Kopf stellt. Zwar hat sie bis heute schnell reagiert und auf diese neuartige Herausforderung auf ebenso neuartige Weise reagiert: mit beispiellosen Wirtschaftssanktionen gegen den russischen Aggressor, mit beispielloser logistischer Unterstützung und Waffenlieferungen an den ukrainischen Aggressor und mit der improvisierten, aber aktiven Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen.

Aber dieser Krieg wird dauern! Die Europäische Union hat am 23. Juni der Ukraine und dem ebenfalls von Russland bedrohten Modavien den Status eines Beitrittskandidaten verliehen und damit noch einen draufgesetzt. Trotz aller diplomatischen Feinheiten ist die Europäische Union in einen bewaffneten Konflikt verwickelt, der an die Grenzen der direkten Kriegsführung stößt. Der Kreml antwortete am selben Tag, an dem der Europäische Rat der Ukraine den Status eines Kandidatenlandes zuerkannte, ausdrücklich, dass der Krieg erst dann enden würde, wenn die gesamte Ukraine und ihre Regierung kapituliert hätten!

Russland führt also einen totalen Krieg gegen die Ukraine und konfrontiert die Europäische Union direkt, offen und alternativlos. Es schüchtert das EU-Mitglied Litauen ein, das lediglich die EU-Sanktionen zur Kontrolle des Zugangskorridors zur Enklave Kaliningrad umsetzt. Diese erinnert immer mehr an das Danzig der Vorkriegszeit. Und die Methoden dieses Putinschen "Dritten Reichs", das ein würdiger Erbe der Zaren und später der Sowjets ist, erinnern immer mehr an die des "Dritten Reichs" und der Nazis, die die Russen sogar neu erfinden, um ihre Schandtaten zu rechtfertigen!

Die Europäische Union, deren fünf Mitgliedstaaten an Russland und vier an die Ukraine grenzen - allesamt ehemalige Mitglieder oder Satelliten der ehemaligen Sowjetunion -, war auf diese alptraumhafte Situation kaum vorbereitet. Nur die NATO schützt sie, die NATO, die einst so unvorsichtig von Emmanuel Macron als "hirntot" verspottet wurde. Heute beeilen sich Finnland und Schweden, ihr beizutreten! Denn nur sie sichert Europa ein glaubwürdiges militärisches Instrument, trotz der chronischen Unterbewaffnung der meisten europäischen Staaten außerhalb der amerikanischen Präsenz und des fast völligen Fehlens einer eigenen Kompetenz der Europäischen Union in diesem Bereich.

Dieses Werkzeug und diesen Schutz verdanken wir vor allem dem Engagement und der Macht der USA, die heute fast die Hälfte des weltweiten Waffenarsenals besitzen. Doch abgesehen davon, dass sie uns auf vielfältige Weise politisch, technologisch und kommerziell für unsere militärische Abhängigkeit bezahlen lassen, insbesondere indem sie den meisten Europäern den Kauf ihrer eigenen Ausrüstung aufzwingen, stimmen die strategischen Prioritäten der USA aufgrund ihrer Fokussierung auf die zunehmenden Spannungen mit China im Pazifik nicht unbedingt mit unseren überein.

Es geht also für Europa nicht nur um die brutale Rückkehr zu einer politischen Situation des Kalten Krieges, sondern um noch viel Schlimmeres mit diesem echten Krieg, seinen vielen Toten, seinen zivilen Gräueltaten, seiner massiven Zerstörung und seinem ständigen Risiko einer unvorhersehbaren und unkontrollierten Verkettung, wobei Putin sich darin gefällt, jedem westlichen Gegner seines ungezügelten Imperialismus mit der nuklearen Apokalypse zu drohen. Vor über dreißig Jahren glaubten wir, den Frieden zu gewinnen, als wir 1990 den Moskauer Vertrag unterzeichneten, der die deutsche Wiedervereinigung besiegelte und den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion die Mitgliedschaft in der EU ermöglichte. Am Ende dieser privilegierten dreißig Jahre stellen wir fest, dass diese glückliche Zeit eine schuldhafte Sorglosigkeit unsererseits verdeckt hatte, deren schreckliche Rechnung uns heute präsentiert wird!

 

Neuartige Herausforderungen für das Europa von morgen

Die Europäische Union sieht sich somit zum ersten Mal mit der Problematik eines Landes konfrontiert, das zwar als Beitrittskandidat anerkannt ist, aber in einen blutigen Konflikt verwickelt ist, der von seinem russischen Nachbarn aufgezwungen wird. Dieses "Reich des Bösen", wie Präsident Reagan es nannte, hat ein halbes Jahrhundert lang die Länder Mittel- und Osteuropas besetzt und gemartert, die nichts vergessen haben und, obwohl sie den NATO-Schutzschirm begrüßen, zunehmend über die Situation an ihren Grenzen entsetzt sind.

Die Kandidatur der Ukraine ist, abgesehen von der Tragik des Konflikts, unter dem sie leidet, auch keine Kandidatur wie jede andere. Ihre Fläche ist größer als die eines jeden EU-Staates. Aber ihr BIP erreicht nur 20% ihres Durchschnitts. Diese Ungleichheit, zu der noch die Kosten für den Wiederaufbau hinzukommen, bedeutet, dass es mehr Hilfe benötigt als jeder andere Staat. Dennoch wird sich diese EU-Hilfe langfristig für alle Beteiligten als äußerst rentabel erweisen, da sie nicht einem von Natur aus armen Land, sondern einem potenziell reichen Land zugutekommt, obwohl es heute von Armen bewohnt wird.

Die Ukraine ist nicht nur einer der größten Agrarproduzenten und -exporteure der Welt, sondern auch ein Land mit unvergleichlichen Reichtümern. Neben den Eisen- und Kohleminen und der Stahl- und Aluminiumproduktion im Osten des Landes, wo die heftigsten Konflikte stattfinden, verfügt die Ukraine auch über zahlreiche seltene Erden und Metalle (z. B. Lithium, Gallium, Kobalt, Titan, Indium, Zirkonium usw.), die in der Europäischen Union dringend benötigt werden und für die Energiewende, die Halbleiterindustrie und den technologischen Fortschritt unerlässlich sind.

Was die riesigen Öl- und Gasreserven der Ukraine betrifft, so werden sie, sobald sie ausgebeutet sind, unsere derzeitige Abhängigkeit und unsere Beschränkungen in schlechte Erinnerung bringen, da Russland seinerseits die Ukraine nur als Transitland für seine eigene Produktion benutzt und sich davor gehütet hat, seine Konkurrenz zu fördern!

Für das Europa von morgen, das mit seinen vielfältigen wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert ist, wird die in die Europäische Union integrierte, wiederaufgebaute und entsprechend ausgerüstete Ukraine ihm schließlich im Gegenzug zu ihrem beiderseitigen Nutzen das bieten, was den Europäern fehlte, um ihre Energieautonomie zu gewährleisten und ihnen gleichzeitig die Mittel für einen erfolgreichen Klima- und Technologiewandel an die Hand zu geben. Neben der politischen, geopolitischen und natürlich humanitären Evidenz, die weiterhin Priorität hat, wird die Ukraine also jede logistische und bewaffnete Hilfe, die Europa ihr leisten kann, mehr als verdienen.

Doch die derzeitige Hilfe bleibt tragischerweise hinter den Erfordernissen der Zeit zurück. Unsere Wirtschaftssanktionen lösen ebenso viele russische Gegenmaßnahmen aus, die unsere eigene Verwundbarkeit und Abhängigkeit von Energieimporten deutlich machen. Und sie allein werden nicht ausreichen, um das Schicksal der Waffen zu ändern.

Was unsere tatsächliche, aber maßvolle Unterstützung in Form von Waffen angeht, so besteht die große Gefahr, dass sie ebenfalls nicht ausreicht, da es kein frontaleres und entschlosseneres Engagement gibt, das dem Ausmaß der russischen Aggression entspricht. Lassen wir es also zu, dass Putins Armee unseren Kandidaten, der ebenso für unsere wie für seine Freiheiten kämpft, ohne einen einzigen Meter zu bewegen überrollt?

 

Neuartige Herausforderungen für das Frankreich von Emmanuel Macron

In dieser kritischen Situation schwächt der geringe Spielraum eines wiedergewählten Präsidenten, der keine parlamentarische Mehrheit hat, auf die er sich verlassen kann, seine Fähigkeit, Initiativen zu ergreifen, erheblich. Die Zeiten, in denen Valéry Giscard d'Estaing "zwei von drei Franzosen" zusammenbrachte, um Frankreich zu modernisieren und Europa zu reaktivieren, scheinen weit zurückzuliegen. Emmanuel Macron befindet sich in einer umgekehrten Situation, mit einer Parlamentsfraktion ohne Mehrheit, die von einer ebenso starken wie euroskeptischen extremen Linken und Rechten eingerahmt wird, die in ihren Reihen eine sehr ambivalente Haltung gegenüber Putin pflegen.

Diese Situation bringt unseren Präsidenten in eine unangenehme, wenn nicht sogar gefährliche Lage, gerade als der Ausdruck, den er dreimal gegenüber dem Covid geprägt hatte, "wir befinden uns im Krieg", dieses Mal gerechtfertigt zu sein scheint, obwohl er sich hütet, ihn erneut zu verwenden, da wir nun in diesen echten Krieg verwickelt sind!

Republik dem Präsidenten in seiner Funktion als Oberbefehlshaber der Streitkräfte und in seiner "reservierten Domäne" in der Außenpolitik, also im Europäischen Rat, zuerkannt hat, unterstützt durch seine weitgehende Handlungsautonomie jenseits des Parlaments, die bei unseren Nachbarn ihresgleichen sucht.

 

Neue Herausforderungen für Deutschland von Olaf Scholz

Die Koalitionsregierung von Olaf Scholz, auch wenn ihre Bildung zwei lange Monate in Anspruch nahm, hat nicht mit den aktuellen Problemen der neuen französischen Regierung zu kämpfen. Das föderale und pragmatische Deutschland, das im Gegensatz zu Frankreich mit dem Parlamentarismus und einer Kultur des Kompromisses und nicht der Konfrontation vertraut ist, erscheint in dieser Hinsicht politisch viel besser organisiert als das ebenso zentralisierte wie zerklüftete Frankreich. Doch der Krieg in der Ukraine zwingt Deutschland heute dazu, seine strategischen Entscheidungen, die doch so sorgfältig abgewogen und ausgehandelt wurden, radikal in Frage zu stellen, sowohl im Bereich der Verteidigung als auch der Energiepolitik.

Die Bundewehr, die seit der deutschen Wiedervereinigung und dem Fall der Sowjetunion zu sorglos war und immer noch von der verdeckten und tabuisierten Erinnerung an die Wehrmacht geprägt ist, findet sich heute angesichts der neuen Herausforderungen des Krieges im Osten unterformatiert, wenn nicht sogar "nackt" wieder, wie es einer ihrer Verantwortlichen ausdrückte. Bundeskanzler Scholz hat zwar einen beispiellosen Plan von 100 Milliarden Euro angekündigt, um sie neu auszurüsten. Dies wird jedoch eine außergewöhnliche haushaltspolitische und industrielle Anstrengung erfordern. Und wird es ausreichen, um in einem Deutschland, das aufgrund seiner antimilitaristisch geprägten Kultur keinen Kampfgeist mehr kennt, den erforderlichen Kampfgeist wiederherzustellen?

Die gleiche Herausforderung im Energiebereich. Der von Kanzlerin Merkel brutal beschlossene Verzicht auf Atomkraft hat nicht nur den Abbau von besonders umweltschädlicher Kohle ermöglicht, sondern auch zu einer unverantwortlichen Abhängigkeit von russischen Gaskonzernen geführt, in denen der ehemalige Kanzler Schröder ein aktiver Direktor geworden war. Deutschland befindet sich nun in einer Zwickmühle zwischen Klimaschutz und Sanktionen gegen Russland.

 

Neuartige Herausforderungen für das deutsch-französische Paar

Das deutsch-französische Paar, das für den Aufbau Europas von zentraler Bedeutung ist und sich in seinen jeweiligen Stärken ergänzt, wird in Frankreich gerne so genannt.

Seine geteilten Emotionen sind nicht zu unterschätzen. Geprägt von dem Willen, ein neues Kapitel in der Geschichte jahrhundertelanger und zunehmend unmenschlicher Konfrontationen aufzuschlagen, wurden sie durch zahlreiche symbolische Gesten illustriert: Robert Schuman, der als Deutscher geborene Lothringer, bot Bundeskanzler Adenauer bereits 1950 eine gemeinsame Zukunft an; de Gaulle und Adenauer umarmten sich 1963 beim Elysée-Vertrag; Mitterrand und Kohl gingen 1984 in Verdun Hand in Hand; Macron und Merkel 2018 auf der Lichtung von Rethondes. Doch wie jede lange Geschichte wird auch diese ihre Höhen und Tiefen gehabt haben.

Ihre Höhen, als sie 1951 die EGKS für Kohle und Stahl und 1957 die EWG für den Gemeinsamen Markt schuf, die allgemeine Wahl des Europäischen Parlaments beschloss, gefolgt vom EWS und der Währungsunion, und vor kurzem die Erfindung einer europäischen Anleihe, um die Wirtschaftskrise im Zusammenhang mit dem Covid zu bewältigen.

Seine Tiefen, als Frankreich 1954 die Ratifizierung der EVG zur Schaffung einer europäischen Armee verweigerte, sich dann zweimal - 1994 unter Präsident Mitterrand in Regierungskohabitation mit Balladur und 2000 unter Präsident Chirac in Regierungskohabitation mit Jospin - den deutschen Vorschlägen für ein föderales Europa mit einer Währungsunion widersetzte, oder auch bei unserem negativen Referendum von 2005 zum Entwurf des von Deutschland geliebten europäischen Verfassungsvertrags.

Trotz dieser Höhen und Tiefen waren die Beziehungen zwischen dem deutsch-französischen Paar nie frei von Unklarheiten, da die politischen und sozialen Systeme sowie die Kulturen der beiden Länder nach wie vor sehr unterschiedlich sind. Das deutsch-französische Paar ist also nicht darauf vorbereitet, die Errungenschaften und Misserfolge seiner langen Kohabitation gegen eine unbekannte Form der Integration einzutauschen.

Im Einklang mit einer tief verwurzelten französischen Tradition bleibt der europäische Ansatz von Emmanuel Macron vorrangig zwischenstaatlich, trotz der leidenschaftlich europäischen Akzente seiner Sorbonne-Rede, die er kürzlich vor dem Europäischen Parlament bekräftigt hat. Und obwohl die erstmalige Hissung der europäischen Flagge unter dem Arc de Triomphe diese Verbundenheit öffentlich veranschaulichte, löste sie in Frankreich eine Polemik aus, die in Berlin unpassend erschienen wäre.

Diese europäische Vision Frankreichs ist weit entfernt von der Deutschlands, dessen Koalition unter Olaf Scholz in ihrem aktuellen Programm ruhig das Ziel eines europäischen Bundesstaates festschreibt, während keine Partei und kein Politiker in Frankreich es heute wagen würde, den Wählern ein solches Ziel zu präsentieren, ganz im Gegensatz zu gestern. Das Bekenntnis zum Föderalismus bleibt der gemeinsame Bezugspunkt für alle Deutschen, während die sakralisierte gaullistische Verehrung zum einzigen verbindenden Element aller Franzosen geworden zu sein scheint.

Die Institutionen beider Länder sind ein gutes Beispiel für diese Unterschiede. Das präsidiale, vertikale und inhärent persönliche System der Fünften Republik, eine Reaktion auf die vorherigen Systeme der Dritten und Vierten Republik, unterscheidet sich seit 60 Jahren grundlegend von dem parlamentarischen System, das in Deutschland stärker denn je verankert ist. Das französische Territorialsystem ist ein Abbild dieser Vertikalität, mit seinen hundert Präfekten auf Departement-Ebene, die der Zentralgewalt in Paris unterstellt sind. Es hat nichts mit dem deutschen System der Bundesländer zu tun, die mit Autonomie, jeweiligem Gewicht, Budgets und Vorrechten ausgestattet sind, die mit unseren Regionen, die künstlich über die Departements gelegt wurden, nicht zu vergleichen sind und die Konkurrenz und Verwirrung zu unserer Bürokratisierung hinzufügen.

Auf kultureller Ebene sind die Städtepartnerschaften zwischen deutschen und französischen Städten zwar nach wie vor wichtig und der gegenseitige Austausch von Studenten, insbesondere im Rahmen des Erasmus-Programms, zahlreich. Die gegenseitigen Sprachkenntnisse haben jedoch stetig abgenommen, da der allgemeine Gebrauch des Englischen, der durch das Internet gefördert wird, eine Situation bestätigt hat, die kaum noch umkehrbar erscheint.

So sind trotz der Fortschritte eines grenzenlosen Europas mit einer gemeinsamen Währung die Arten des Seins, Denkens und Handelns auf beiden Seiten des Rheins sehr unterschiedlich geblieben. Dies wird einen Wandel, den die Situation jedoch dringend erforderlich macht, nicht erleichtern.

 

Neuartige Herausforderungen, neuartige Antworten

Denn der Krieg, den Putin der Ukraine aufgezwungen hat, richtet sich genauso gegen Europa, seine Souveränität, seine Demokratie, seine Lebensweise, seine Freiheiten und seine Werte. Er provoziert gerne die Europäische Union, die er verachtet und die er mit allen Mitteln spalten will. Angesichts einer solchen Bedrohung müssen sich Europa und die deutsch-französische Partnerschaft radikal verändern. Diese Radikalität wird sich nicht ohne Krisen vollziehen. Aber Jean Monnet hat es vorausgesagt: Europa wird sich in Krisen aufbauen und die einzige Antwort auf diese sein.

Sicherlich werden viele, angefangen bei unseren führenden Politikern, eine zunehmende Euroskepsis der Wähler gegen eine solche Umwälzung des derzeitigen europäischen Systems, und sei es noch so wackelig, ins Feld führen. Aber die Frage ist falsch gestellt! Alle öffentlichen Debatten über die Zukunft Europas, die in den letzten Jahren zunächst auf Wunsch von Kommissionspräsident Juncker, dann von Präsident Macron und schließlich vom Europäischen Rat organisiert wurden, haben deutlich gezeigt, dass die Kritik der überwiegenden Mehrheit unserer Mitbürger keineswegs auf das europäische Aufbauwerk an sich abzielt, sondern auf seine politischen und sicherheitspolitischen Unzulänglichkeiten, seine undurchsichtige Funktionsweise, seine demokratischen und sozialen Mängel, seine internationalen Schwächen, seine Laxheit an den Außengrenzen, seine ungleiche steuerliche Behandlung und seine technokratischen Auswüchse. Um diese zu beheben, bräuchte es einen Integrationssprung. Aber wie?

 

Ohne deutsch-französische Neugründung keine wirksame Antwort

Diese doch klaren Erkenntnisse aus den zahlreichen öffentlichen Debatten mit den Bürgern wurden weitgehend verschwiegen, vergessen und übergangen, sowohl von unseren Medien als auch, was viel schlimmer ist, von denselben Personen, die sie in Auftrag gegeben hatten, d. h. von unseren eigenen Führungskräften! Unter diesen Umständen wäre eine neue Konferenz der 27 Mitgliedstaaten zur Revision der Verträge sicherlich nicht die richtige Methode, um diesen Integrationssprung zu schaffen, da der heute fehlende vorherige Schritt fehlt.

Dennoch kann Europa nicht taub gegenüber Volodymyr Zelenskis Aufruf zu verstärkter und direkterer Hilfe bei seinem Widerstand gegen die russische Aggression bleiben. Gewiss, Putin hat nicht gezögert - ein beispielloser Vorgang -, die nukleare Drohung gegen jeden auszusprechen, der sich seiner Aggression in den Weg stellt. Doch in diesem Pokerspiel, in dem er alle Register zieht, wird sich Schwäche sicherlich weniger auszahlen als Entschlossenheit, einschließlich einer direkten Interposition auf Zelenskis Aufforderung hin. Churchill hatte die westlichen Unterhändler in München gut gewarnt, dass ihre entehrende Entscheidung, die Schande dem Krieg vorgezogen zu haben, sie in den Krieg führen würde. Einstein hatte bereits festgestellt, dass das Schlimmste angesichts derer, die Böses tun, diejenigen sind, die es mit ansehen und nichts dagegen unternehmen.

Deutschland und Frankreich haben gemeinsam das Minsker Abkommen von 2015 mit Russland unterzeichnet, das die Souveränität der Ukraine garantierte. Da Russland gegen dieses Abkommen verstoßen hat, können sie nicht untätig bleiben, selbst wenn die Europäische Union wirtschaftliche Vergeltungsmaßnahmen ergreift. Heute geht es für unsere beiden Länder nicht mehr darum, Projekte der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit nach dem Vorbild des Aachener Katalogs zu addieren, sondern darum, sich wirksame und damit neuartige Mittel an die Hand zu geben, um auf eine Aggression zu reagieren, die uns als direkte Garanten der Souveränität der Ukraine in erster Linie betrifft.

Hatte nicht de Gaulle 1940 Churchill einen Zusammenschluss von Frankreich und Großbritannien vorgeschlagen, um gemeinsam dem gemeinsamen Aggressor Widerstand zu leisten? Und würde 2022 die aktuelle Herausforderung angesichts der Aggression unseres ukrainischen Verbündeten nicht eine deutsch-französische Fusion unserer diplomatischen, militärischen und technologischen Mittel im Dienste einer viel wirksameren Interposition gegenüber Russland verdienen, von der nun der Schutz unserer Interessen und unserer Souveränität selbst abhängt?

Wie soll das gehen? Zu viele Unbekannte stehen einer Vorhersage der Zukunft entgegen: die derzeitige politische Schwäche von Präsident Macron, die Unwägbarkeiten des Umstellungsplans von Bundeskanzler Scholz, die Schwierigkeiten, unsere gegenseitigen Unterschiede zu überwinden, und die Fähigkeit unserer Meinungen, eine solche Umwälzung zu akzeptieren. Aber unmöglich, so sagt man, ist nicht französisch. Als Marschall Foch sah, dass seine Linke in die Enge getrieben wurde und seine Rechte feststeckte, beschloss er, anzugreifen! Und als sich alles in die entgegengesetzte Richtung verbündete, war es Charles de Gaulle, der mit seinem bloßen Willen jegliches Schicksal ablehnte. Es sollte uns also nichts daran hindern, uns hier auf Martin Luther King zu beziehen, der der in Washington versammelten Menge erklärte: "I have a dream" (Ich habe einen Traum).

 

Ohne diplomatische und militärische Integration keine deutsch-französische Neugründung

Unser Traum wäre es heute, dem europäischen Aufbauwerk das Gerüst zu geben, das ihm fehlt, um unserem Kontinent eine dauerhafte Befriedung, eine garantierte Souveränität, geschützte Freiheiten und die Vollendung seiner Vereinigung zu sichern.

Um entschlossen in diese Richtung voranzukommen, würden Deutschland und Frankreich vereinbaren, den ersten entscheidenden Schritt zu tun, indem sie ihr gegenseitiges Vertrauen und ihr gemeinsames Handeln auf einer gleichberechtigten, also völlig neuen Basis neu begründen. Es ginge darum, endlich alle Konsequenzen aus dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor bald achtzig Jahren, der deutschen Wiedervereinigung vor über dreißig Jahren, der noch zu vollendenden kontinentalen Einigung Europas und der schändlichen Aggression Russlands gegen die Ukraine, das letzte von der Europäischen Union zugelassene Kandidatenland, zu ziehen, die all diese Entwicklungen und unsere gesamte Zukunft gefährden könnte.

In diesem Rahmen sollten sich drei deutsch-französische Prioritäten durchsetzen, die den Weg für einen europäischen Integrationssprung ebnen: die Formalisierung einer einheitlichen Diplomatie, die Verpflichtung zu einer ebenso massiven wie gemeinsamen Aufrüstung und dabei eine solidarische Rückeroberung der neuen Technologien, die Europa braucht.

Bereits mehrmals hatten die französischen und deutschen Regierungschefs physisch eine gemeinsame Front gegen Putin gebildet: Sarkozy, dann Hollande mit Merkel, dann Macron mit Merkel und dann Scholz. Diese gemeinsame Front sollte nun offiziell, strukturell und dauerhaft werden.

Im UN-Sicherheitsrat sollte Frankreich das unrealistische Ziel eines zusätzlichen deutschen ständigen Sitzes aufgeben, anstatt seinen eigenen Sitz zu teilen. Es sollte einen deutsch-französischen Pakt schließen, in dem festgehalten wird, dass die vom französischen Vertreter vertretenen Positionen in ihrem gemeinsamen Namen geäußert werden. Olaf Scholz selbst hatte 2018 einen ständigen Sitz für die Europäische Union als Nachfolger des französischen Sitzes vorgeschlagen und damit zugegebenermaßen einen Aufschrei im Hexagon ausgelöst. Dieser deutsch-französische Pakt wäre eine besser gerechtfertigte und realistischere Neuerung, die keineswegs eine ständige Abstimmung mit dem Hohen Vertreter der Europäischen Union für die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik oder die Aussicht auf eine spätere, wenn auch bedingte Ausweitung auf eine Vertretung der Union ausschließt.

Diese Verlegung unseres ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat würde mit einer ständigen Synchronisierung unserer diplomatischen Aktionen einhergehen, die es uns ermöglichen würde, unseren Botschaften gemeinsame Anweisungen zu erteilen und unseren Staatsbürgern den gleichen Schutz und die gleichen Erleichterungen zu gewähren.

Diese Neugründung unseres gegenseitigen Vertrauens, das durch eine integrierte strategische Vision und gemeinsame Mittel verbunden ist, würde es uns ermöglichen, endlich eine gemeinsame Verteidigungspolitik einzuleiten, die, wie die Geschichte gezeigt hat, ohne solche beispiellosen politischen und diplomatischen Vorbedingungen illusorisch gewesen wäre.

Sie würde alle logistischen und militärischen Aspekte einer echten gemeinsamen Sicherheit mit gegenseitig offenen und bevorzugten öffentlichen Aufträgen in all ihren Anwendungen zu Land, in der Luft und auf See abdecken. Diese integrierte Nachrüstung würde neben Dutzenden von neuen gemeinsamen Projekten insbesondere den Bau des zweiten Flugzeugträgers umfassen, der Europa fehlt.

Diese deutsch-französische Aufrüstung würde natürlich weiterhin direkt mit der NATO verbunden sein, aber in enger Partnerschaft und nicht mehr in strikter Abhängigkeit. Sie würde allen anderen europäischen Ländern offen stehen, die sich ganz oder teilweise an diesem umfassenden Programm beteiligen möchten, sofern sie alle Regeln und Disziplinen akzeptieren.

Ein solches Programm würde unzählige industrielle und technologische Vorteile für Unternehmen aller Größenordnungen mit sich bringen, auch in zahlreichen zivilen Anwendungsbereichen. Es würde mit einer echten gemeinsamen Rückeroberung in den für die Zukunft wesentlichen Bereichen einhergehen: Energie, Klima, Biologie, Kybernetik, Robotik, Weltraum usw.. Neben unserer Sicherheit würde dieses Programm zur technologischen Rückeroberung, das allen europäischen Staaten offen steht und an die bereits bestehenden europäischen Programme angelehnt ist, denen es eine ganz andere Ausdehnung verleihen würde, Europa und seinen Unternehmen die Autonomie und Wettbewerbsfähigkeit sichern, die sie angesichts der Globalisierung so dringend benötigen.

 

Die Zeit ist weder für Pessimismus noch für Optimismus, sondern für Entschlossenheit gekommen

Die gegenwärtige Situation, die ebenso tragisch wie komplex ist, birgt ebenso viele Risiken von Verzicht, Spaltung und Zerfall wie Chancen für Neugründung, Reaktion und Rückeroberung.

Wer diese Perspektiven als utopisch abtut, dem sei gesagt, dass sie nicht weniger wahrscheinlich sind als der Traum, den Martin Luther King seinerzeit träumte. Und man sollte sich vor allem an die Haltung Jean Monnets erinnern, der angesichts der zahlreichen Hindernisse, denen er sich unweigerlich stellen musste, zur Zukunft des europäischen Aufbauwerks befragt wurde: "Ich bin weder Pessimist noch Optimist, sondern entschlossen".

Dies war auch die Linie von Volodymyr Zelenski, als er vor die Wahl gestellt wurde, wie er sich angesichts der Aggression gegen sein Land verhalten sollte, eine Wahl, die nunmehr mit der Geschichte verbunden ist, der Geschichte, an die sich künftige Generationen erinnern und die sie als Vorbild kommentieren werden. Werden unsere eigenen führenden Politiker in Frankreich und Deutschland in der Lage sein, sich auf eine ähnliche Höhe zu begeben?

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